Auf vier Rädern

Gepostet von meta-physik am Dienstag 23 November 2010

barchair1Gehen ist für mich eine wichtige Sache. Fußwege von 30-60 Minuten halte ich für duchaus zumutbar, und ich liebe ausgedehnte Wanderungen durch den Wienerwald. Doch nicht alle Menschen genießen dieses Privileg. Wie es ist, nicht „einfach gehen“ zu können, zeigt Martin Habacher mit seinem fast schon legendären BarChair.

Beim BarCamp am 20. und 21. November in Wien hatte ich die Gelegenheit, mir etwas genauer vorzustellen und zu erleben, womit Rollstuhlfahrer in unserer Welt konfrontiert sind.

Es ist nicht so, dass mich das Thema Behinderung zuvor nicht interessiert hätte – als Mutter zweier Kinder hatte ich oft das zweifelhafte Vergnügen zu erleben, wie gedanken- bis rücksichtslos Leute sich verhalten können – Stadtplaner, die Gehsteigkanten bauen, Personen, die Lifte blockieren oder einen nicht aus der U-Bahn aussteigen lassen, Autofahrer, die dort parken, wo ihre Schüssel zufällig zum Stehen kommt – Straßeneck? Egal. (eine Straße an anderen Stellen als Kreuzungen zu überqueren ist sowieso unmöglich, aber manchmal geht’s nicht einmal dort.)

barchair2Trotzdem: mit Rollstuhl ist die Einschränkung noch um einiges intensiver. Ein Beispiel fand sich in dem sehr elegant gestalteten und an sich barrierefreien Veranstaltungsgebäude: Die Tischplatten waren genau in Kopfhöhe – eine unbedacht genommene Kurve, und frau hätte das Eck im Hirn gehabt.

Eine Runde mit dem Rollstuhl fahren ist in einem großzügigen Bürogebäude eine viel geringere Herausforderung, als ich nach diesem Video gedacht hätte. Aber trotzdem: es will geübt sein.

2010-11-21_14-06-21_841_Wie fasst man einen Rollstuhl richtig an, und wie faltet man ihn zusammen? Das durften wir gemeinsam am BarChair ausprobieren. Achtung: die Stellen, wo man spontan hinfassen würde, sind oft am wenigsten dafür geeignet. Zum Beipiel hatte der schicke Sportstuhl an der Rückenlehne zwei Griffe. Zum Schieben sind die brauchbar, nicht aber um den Stuhl samt Fahrer über eine Stiege hinunterzuhieven. Dazu muss man an einer Befestigung anfassen, die ordentlich in die Hände einschneidet.

Auch die Kotflügel sind tabu – die brechen höchstens ab. Die Greifringe sind geeignet – aber man muss bedenken, dass blockierte Bremsen nicht ausreichen, wenn man auf 9h anfasst – die Räder drehen sich wahrscheinlich auf 12h durch. Grundsätzlich sollte man darauf achten, einen Rollstuhl immer am Rahmen anzufassen.

2010-11-21_14-36-02_192_Ist man in Verlegenheit jemanden über eine Stiege hinauf- oder hinunterzutransportieren, sollte man das immer unbedingt zu zweit tun – besser noch zu dritt (vorausgesetzt die Stiege ist breit genug). Immer in die Knie gehen und den Stuhl an jeder Stufe einrasten lassen. So kann man, wenn einen die Kräfte verlassen, den Stuhl mit relativ wenig Kraftaufwand stabil halten, bis man sich erholt hat oder abgelöst werden kann.

Die Stiege hinunter getragen werden (vier kräftige Herrn haben angepackt, danke!) verursacht ein ganz schön mulmiges Gefühl. Das möchte ich nun wirklich nicht allzu oft erleben.

Die Kernfrage aber war: wenn man einen Rollstuhlfahrer sieht, der vielleicht Schwierigkeiten hat, was ist zu tun? Soll man helfen oder nicht?

Martin schärfte uns ein: immer erst fragen. Manche Leute möchten selbst und alleine zurechtkommen und wollen keine Hilfe. Andere wiederum wünschen durchaus welche. Damit man’s richtig macht, ist es wichtig vorher zu fragen, wie man am besten helfen kann, wo man anfassen sollte und so weiter. Der Besitzer des Rollstuhls weiß in der Regel am besten über sein Gerät Bescheid.

Martin passiert es zum Beispiel immer wieder, dass Leute seinen Elektrorollstuhl an der Steuerung anfassen. Im weniger schlimmen Fall schalten sie ihn aus und machen ihn immobil. Im schlimmeren Fall geben sie Gas – und der Motor zieht ordentlich.

2010-11-21_14-28-57_676_In unserer Welt gibt es eine Kluft zwischen Menschen mit und ohne Behinderung, die zu überbrücken für beide Seiten nicht leicht ist. Erst seit ich Martin kenne wird mir bewusst, wie oft Menschen mit Behinderungen durch scheinbare Kleinigkeiten ausgeschlossen werden.

Mir fiel zum Beispiel nie auf, dass man beim Betreten von Lokalen oft eine Stufe überwinden muss – für mich ist das so nebensächlich, dass ich es gar nicht merke. Für Martin ist das ein unüberwindliches Hindernis. Seit ich das weiß, achte ich viel mehr auf solche Dinge. Danke, Martin, für diese wichtigen Informationen und das Brückenschlagen!

PS: Ich fühle mich oft behindert durch Lärm und Gestank der Autos und die Gefahr, die von ihnen ausgeht. Viele Straßen sind für Fußgänger unbenützbar, obwohl die meisten Wege in der Stadt zu Fuß zurückgelegt werden (einzige Ausnahme: berufstätige Männer zwischen 30 und 55 Jahren). Eine Stadt, in der man gehen kann, das wünsche ich mir. Und ich glaube, in einer solchen Stadt wären Rollstuhlfahrer weniger „behindert“ als in unserer.

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